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Am 19.Mai starb in Tübingen der Literaturwissenschaftler, Jurist, Schriftsteller, Musikkenner und -kritiker und, vor allem,
marxistische Gesellschaftstheoretiker Hans Mayer im Alter von 94 Jahren. Beigesetzt wurde er, wie er es sich gewünscht hatte, auf dem Berliner
Dorotheenstädtischen Friedhof, nicht weit von Bertolt Brecht.
Das Scheitern der "bürgerlichen Aufklärung" erscheint als die notwendige
Konsequenz der Unlösbarkeit der Grundwidersprüche innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: die Dichotomie zwischen universalen
Gleichheitspostulaten einerseits und der systembedingten, materiellen Ungleichheit, Ausbeutung, Unterdrückung auf der anderen Seite. Das hatten Marx und Engels in
ihrer Kritik der bürgerlichen Philosophie der Aufklärung, u.a. in den Schriften über den deutschen Idealismus und über die Revolutionen in
Frankreich, vorgedacht. Kultur- und gesellschaftstheoretisch konkretisiert und aktualisiert haben es Jahrzehnte später die undogmatischen Marxisten Walter Benjamin
und Ernst Bloch, die kritische Theorie, kulminierend in der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer.
In dieser Tradition steht das Denken Hans Mayers. In seiner vielleicht wichtigsten Studie
Außenseiter von 1975, fordert er die Perpetuierung der Aufklärung im Zeichen einer "permanenten Revolution", die nur möglich werde durch
den Wechsel des sozialen Subjekts: Der Bourgeoisie müssen die Zügel entrissen werden, das revolutionäre "Projekt Aufklärung"
könne nur durch neue "gesellschaftliche Träger" gegen die Interessen der einstigen bürgerlichen Protagonisten, in radikalisierter Form,
vorwärtsgebracht werden.
Doch Hans Mayer geht noch einen Schritt weiter. Er wirft allen Erscheinungsformen der Aufklärung,
von den bürgerlichen Philosophen des 18.Jahrhunderts bis zum marxistischen und religiös-messianistischen Denken des "konkreten" Utopisten
Ernst Bloch, das Versagen vor den Außenseitern vor. Sie ignorierten, bei aller soziopolitischen Kritik und progressiven Zukunftsentwürfen, die
"Ungleichheit im Menschlichen" (nicht bloß im Gesellschaftlichen). "Die Gleichheitsforderung mit der pathetischen Berufung auf alles, was
Menschenantlitz trage, bleibt so lange widerspruchsvoll, wenn nicht unaufgeklärt, wie sie von einer scheinbaren Regelmäßigkeit des Menschlichen
auszugehen versucht. Dann bedeutet Egalität die Norm…" Normierung aber ist verbunden mit Gewalt, mit Unterdrückung. Im Gleichheitsabsolutismus
liegt somit wieder der Kern einer neuen Unfreiheit.
Hans Mayers Bestreben war es, das konkret leidende Individuum, die Erniedrigten, Geächteten und
Beleidigten, die "außenseiterische Subjektivität" in den Mittelpunkt zu rücken. Es ging ihm um den unveräußerlichen Rest, das
Nicht-Identische, das was nicht aufgeht im Ganzen des Kollektivs. Dies alles als Probestein der "permanenten" Aufklärung, oder, im Anschluss an eine
Überlegung Michel de Montaignes: das Monstrum als Ernstfall der Humanität.
Danach hat er vor allem in der Literatur gesucht. Dort spürte er die exzentrischen, an den Rand der
patriarchalisch-bürgerlichenGesellschaft gedrängten Individuen auf, die intentionellen und die existenziellen Außenseiter, die willentlichen
Andersdenkenden, die Rebellen, die Ketzer und Oppositionellen, und die anthropologisch diskreditierten Anderen, die Juden, die Homosexuellen und die Frauen.
Hans Mayers kritischer Impetus galt an erster Stelle der Macht, seine materialistische Literatur- und
Gesellschaftskritik ist als Herrschaftskritik angelegt. Das was Adorno und Horkheimer als abstrakte "Dialektik" zwischen Aufklärung und Mythos
aufgezeigt haben, wird bei Hans Mayer als konkrete Erfahrung von Außenseiterfiguren mit der Pseudotoleranz und der Pseudogleichheit der herrschenden
bürgerlichen Konventionen analysiert.
Diese Erfahrung musste Hans Mayer in seinem eigenen, langen Leben immer wieder machen. Als Sohn
großbürgerlicher jüdischer Eltern wurde er 1907 in Köln geboren. Nach dem obligatorischen humanistischen Bildungsweg studierte er in
Köln, dann in Berlin und Bonn, Staats- und Rechtswissenschaften sowie Philosophie und Geschichte. Im Sommer 1930 promovierte er bei Hans Kelsen mit einer
ideologiekritischen, staatsrechtlichen Studie, um anschließend als Jurist die preußische Beamtenlaufbahn zu absolvieren. 1933 wurde er, kurz vor der letzten
Prüfung, von den Faschisten daran gehindert und aus der Beamtenschaft ausgeschlossen.
In den 20er Jahren, inspiriert von der linksbürgerlichen Intelligenz um Kurt Tucholsky, erlebte
Mayer seine erste "Erweckung" (eines seiner Lieblingswörter): die Lektüre von Georg Lukàcs Geschichte und Klassenbewusstsein.
Im Namen Karl Marx attackierte der Sohn der jüdischen Großbourgeoisie, wie Inge Jens über ihn schrieb, die "Besitz- und Bildungs-
Fronde". Als Linksradikaler schrieb er in Köln für die Zeitschrift Roter Kämpfer und engagierte sich am linksoppositionellen Flügel der
Sozialdemokratie (SAP), zeitweise auch in kommunistischen Kreisen.
Als Linker, Jude und Homosexueller, musste Hans Mayer rasch erfahren, dass es im deutschen
faschistischen Staat keine Existenz mehr für ihn gab. Das Schicksal des Exils sollte zur existenziellen Grunderfahrung werden. Zunächst gelang im die Flucht
nach Frankreich, wo er kurze Zeit Mitarbeiter an Max Horkheimers Institut für Sozialforschung wurde. Hier war er an der legendären Studie über
"Autorität und Familie" beteiligt.
Die nächste Etappe in Hans Mayers Exil-Odyssee war die Schweiz, wo er seine Liebe zur Literatur
entdeckte. Seine Lage als Ausgestoßener auf der Flucht, als Heimatloser, bedingte den endgültigen Bruch mit der Vergangenheit als Jurist. Hans Mayer wurde
Schriftsteller, oder besser: Literat. Zwei weitere Demütigungen kamen hinzu: die Internierung in einem Arbeitslager in der Schweiz und die Ausbürgerung, der
Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft. "Fortan ist nichts mehr so, wie es einmal gewesen sein mochte", schrieb er 1984 in seinen Erinnerungen Ein
Deutscher auf Widerruf.
Der Außenseiter wurde zur politisch-existenziellen Leitfigur im Denken und Leben Hans Mayers.
Der Widerruf war Zeit seines Lebens nicht mehr rückgängig zu machen, es war nicht eine bloße Verwaltungsentscheidung, die Konsequenzen waren
weitreichender: "Ein geschichtliches Datum wie dieser 30.Januar kann nicht aus seinem Zeitvergang losgelöst werden. Jener Tag hat den Widerruf dessen
bedeutet, was man als deutsch-jüdische Symbiose zu bezeichnen pflegt." Darauf beharrte Hans Mayer noch 1993. Deutschland und die Deutschen ließen
sich für ihn nicht mehr zusammendenken. Christoph Hein brachte es im Nachruf auf seinen Lehrer Hans Mayer auf den Punkt: "Er war ein Deutscher, den
Deutsche zum nicht-deutschen Juden erklärten."
Das Exil ermöglichte allerdings die intensive Beschäftigung mit dem Leben und Werk Georg
Büchners und dem deutschen Vormärz. Die Faszination für den hessischen Jakobiner, den Verfasser einer politischen Kampfschrift gegen die deutsche
Misere der feudalen Kleinstaaterei, den Aufrührer und Außenseiter, den materialistischen Literaten Büchner fand ihren Niederschlag in der Studie Georg
Büchner und seine Zeit. Sie wurde wenig später als literaturwissenschaftliche Habilitationsschrift anerkannt und hat zweifellos den Rang eines Klassikers der
historisch-materialistischen Literaturgeschichte, geschult an Franz Mehring und Georg Lukács.
Nach der Befreiung vom Faschismus kehrte Hans Mayer nach einem kurzen Aufenthalt in den USA nach
Deutschland zurück. Für kurze Zeit wurde er Chefredakteur des US-amerikanischen Senders für die deutsche Bevölkerung, Radio Frankfurt. Der
Beginn des Kalten Krieges wirkte sich allmählich auf die Kulturpolitik der amerikanischen Besatzungszone aus. Hans Mayer wurde bald das erste Opfer des unter
Truman aufkommenden Antikommunismus. Während eines nächtlichen Überfalls wurde Mayers Schreibtisch von einem amerikanischen Kontrolloffizier
geräumt; ihm selbst verkündete man am nächsten Morgen die Entlassung. Der kritische Intellektuelle wurde erneut ausgewiesen.
1948 folgte Hans Mayer dem Ruf an die Leipziger Universität. Zusammen mit seinem einstigen
Lehrer Ernst Bloch und in einem engem Arbeitsverhältnis mit Bertolt Brecht, engagierte sich der Literaturprofessor Mayer für den Aufbau eines
antifaschistischen und sozialistischen Staates. Vor allem begeisterte er die jüngere Generation, die zukünftigen Intellektuellen und Schriftsteller der DDR: von
Uwe Johnson bis Volker Braun und Christa Wolf, alle nennen ihn noch heute einen ihrer wichtigsten Lehrer. Studenten aus Halle, Moskau, Peking, Prag und Budapest
hörten seine berühmten Vorlesungen über europäische Geistesgeschichte im Hörsaal 40 der Leipziger Universität. Leipzig wurde, wie
er einmal sagte, zu seinem Ort. Seiner Fakultät brachte er einen legendären Ruhm.
In dieser Zeit entstanden die großen Studien über die bürgerliche Literatur: über
den "anderen" Thomas Mann und den "anderen" Goethe, über den Revolutionär Richard Wagner und immer wieder: Bert Brecht. Als
Marxist Lukácsscher Prägung, vom DDR-Kulturminister Johannes R. Becher sogar als dessen Nachfolger betitelt, war Hans Mayer, wie sein Freund
Ernst Bloch, allerdings nicht bereit, den bürgerlichen Realismus, als höchstes (und letztes) Stadium der Literatur zu preisen. Es ist Mayers größter
Verdienst, die Dichter der spätbürgerlichen Moderne, die von der offiziellen Partei-Literaturwissenschaft als verpönte westliche Formalisten und
"décadents", sowie als irrationale Wegbereiter des Faschismus abgelehnt wurden, auf ihre emanzipatorische und zukunftsweisende Kraft hin zu
prüfen. Als Verteidiger der "großen Literatur" der Avantgarde eines Robert Musil, Franz Kafka, eines Joyce, Faulkner oder Beckett geriet er immer
mehr in Konflikt mit der Kulturpolitik des kleinbürgerlich-erstarrten SED-Miefs.
Hans Mayer befragte die Literatur nach einem einzigen Kriterium: nach ihrem emanzipatorischen und
humanistischen Gehalt. Die großen Hoffnungen, die der Schriftstellerkongress von 1948 noch erzeugt hatte, wurden durch die zunehmende Stalinisierung des
Kulturbetriebs getrübt. Die reaktionäre Kulturlinie und die wissenschaftliche Dominanz der sowjetischen Literaturpolitik in der Shdanow-Ära engten das
Wirkungsfeld des polyglotten Kosmopoliten und profunden Kenners der gesamten Weltliteratur immer mehr ein. Der Druck auf ihn wuchs mit den ersten
Krisenerscheinungen des stalinisierten Regimes: die Slansky-Prozesse und der Arbeiteraufstand am 17.Juni 1953 mussten ihn vor dem Kommenden alarmieren.
Auf einer literaturwissenschaftlichen Tagung und in seinem im Sonntag abgedruckten Rundfunkvortrag Zur
Gegenwartslage unserer Literatur von 1956 formuliert Mayer den Imperativ, die DDR-Schriftsteller sollten die Formexperimente der Wegbereiter einer neuen Literatur nicht
länger missachten. Die Reaktionen waren verheerend. Seine provokanten Thesen wurden von der SED-Propagandamaschine verrissen. Man warf ihm vor,
"keine ausreichende parteiliche Darstellung und Bewertung der sozialistischen Gegenwartsliteratur" vorzunehmen.
Nach der kurzen Öffnung und Liberalisierung der Wissenschaftspolitik der DDR im Zeichen der
Entstalinisierung, kam es ab 1956 wieder zu einem Umschwung. Danach begann ein längerer, hauptsächlich von Leipziger SED-Kreisen betriebener Prozess
der Ausgrenzung Hans Mayers. Nach der Zwangsemeritierung Ernst Blochs und dem Mauerbau 1961 verstärkte sich die Repression gegen den gefürchteten
unabhängigen und kritischen Marxisten, bis schließlich ein Schmähartikel der Universitätszeitschrift gegen ihn erschien, mit der Überschrift
"Eine Lehrmeinung zuviel". 1963 kehrte er von einem Kurzbesuch in der BRD nicht mehr zurück. In Westdeutschland bekam er kurze Zeit später
eine Professur in Hannover, wo er in den folgenden Jahren an der Technischen Universität ein germanistisches Institut aufbaute.
In der BRD blieb Hans Mayer ein etablierter Außenseiter. Er wurde von der akademischen Zunft
hochgeschätzt und gemieden. Nur eines konnte man nicht: ihn ignorieren. In den letzten vierzig Jahren seines Lebens schrieb er weit über hundert Studien:
zahlreiche Essays, Tagungsbeiträge, öffentliche Vorträge und Reden, Literaturkritiken. In den 90ern beteiligte sich der streitbare Autor mit einer Trilogie
an den Auseinandersetzungen über die DDR-Vergangenheit. Er verweigerte sich auch hier wieder der offiziellen Ideologie. Statt sich am kommerziellen Erfolg einer
eindimensionalen "Siegergeschichtsschreibung" zu beteiligen, lieferte Hans Mayer mit seinem Buch Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche
Demokratische Republik ein differenziertes und reflektiert-kritisches Bild über die ostdeutsche Übergangsgesellschaft. Er erntete dafür viel Kritik, Hass
und Diskreditierung. Und dennoch, vielleicht trotz alledem, stehen am Ende dieses langen Leben eines Außenseiters zwei Grundmotive, sie sein gesellschaftliches
und kulturpolitisches Engagement von Anfang an begleiteten: Hoffnung und Utopie. "Das Ende der DDR bedeutet nicht das Ende eines Denkens über
gesellschaftliche Alternativen. Die Deutsche Demokratische Republik war stets eine deutsche Wunde. Sie wird es bleiben und nicht heilen, solange man nicht erkennt, dass
hier eine deutsche Möglichkeit zugrunde ging."
Kein nostalgischer Geschichtspessimismus also und auch keine "posthistorische" Indifferenz.
Hans Mayer blieb bis an sein Lebensende ein Kritiker, ein Dialektiker hegelianischer Prägung, ein marxistischer Intellektueller. Kein bürgerlich-liberaler
Individualist, zu dem ihn Gustav Seibt in der Zeit stilisieren wollte. Sein radikales Individualitätsdenken war weit entfernt vom schöngeistigen und
elitären kulturellen Ambiente der Welt von gestern. Es war leidende Individualität. Als "permanenter" Aufklärer stand er immer auf der
Seite der Unterdrückten. Aufklärung verstand er als Kampf, als Revolution.
Mit ihm geht einer der letzten Literaturwissenschaftler, die, Literaturgeschichte als Gesellschaftsgeschichte
schreibend, nach allen theoretischen und methodischen Gefechten im akademischen Betrieb, der hegemonialen "postmodernen" Skepsis und dem esoterischen,
systemstabilisierenden Ästhetizismus energisch Widerstand leisten. Auch als "etablierter Außenseiter", geduldet und integriert in die deutsche
Literatur- und Kulturlandschaft, blieb er stets unbequem und verkündete bis ins hohe Alter seine häretischen Meinungen, Diagnosen und Proteste gegen den
politischen Mainstream und die "Mode" der Theorie. Mit Schiller behauptete Hans Mayer in seiner Außenseiter-Studie programmatisch: "...dass
man die Schranken der Mode niederreißen muss, um Aufklärung freizusetzen." Diese Art von Aufklärung als Ideologiekritik wird vermisst werden.
Patrick Ramponi
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